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Exerzierübungen mit Kanonen -: 'Stück Exercitium'. Anonyme Handschrift in deutscher Sprache, undatiert (zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts), ohne Ortsangabe (Preussen ?), braune Tinte auf Papier, sehr sauber ausgeführte und übersichtlich gestaltete Reinschrift, der in Tinte gerahmte Schriftspiegel ca. 17,3 x 10 cm, Blattgröße 18,5 x 11,5 cm. (1) weißes Bl., 158 ungezählte Seiten, davon sind 114 beschrieben, hübscher, hellbrauner Lederband der Zeit mit goldgeprägtem Rückenschild, etwas Linienvergoldung, dreiseitigem Rotschnitt und marmorierten Vorsätzen (Kapital leicht beschädigt, Ecken stellenweise berieben, Vorsatz mit kl. Eckabriß, sonst innen bemerkenswert frisch, nahezu fleckenfrei und ungebräunt), 18,8 x 12 cm.

"Erkenntnissen des Militärhistorikers Hans Bleckwenn zufolge gab es keine offiziellen gedruckten Reglements für die Artillerie der altpreußischen Armee (Bleckwenn 1982, S. VII). Sachverhalte zum Dienst und zur Betätigung der Waffen lassen sich 'Collegien' genannten Unterrichtsnachschriften entnehmen, von denen nur noch wenige Exemplare existieren. Da der Inhalt der vorliegenden Handschrift wie ein praxisorientiertes Lehrbuch aufgebaut ist, könnte es sich hierbei um ein solches 'Collegium' handeln. Die Erläuterungen umfassen mehrere Teile: - Stück Exercitium mit dem 3 Pfündter Canons - Stück Exercitium mit den 6 Pfündter Canon - Exercitium mit dem leichten 12pfünder Canon - Exercitium mit der 7pfündigen Haubitze - Exercitium mit dem 1-3-6pfündigen Cavalleri Canon - Exercitium mit einer 7pfündigen Retirier Haubitze - Manipulation mit dem Batterie Geschütz - Die Manipulation mit dem 30 und 60pfündigen Böller - Allgemeine und besondere Regeln - Anmerkung. Jeder Teil ist in kleine nummerierte Unterabschnitte gegliedert, die grafisch voneinander abgehoben sind. Die Ausbildung in der preußischen Artillerie war von dem in der Infanterie üblichen, vorschriftsmäßigen Exerzieren geprägt. Die Lektüre der Handschrift macht deutlich, dass die notwendigen Bewegungsabläufe in kleinste Einheiten zerlegt und durch Befehle wieder zu einem gut funktionierenden Ganzen zusammengesetzt wurden; sie zeigt, wie die Soldaten der Artillerie exerzieren mußten, um perfekte Körperbeherrschung zu lernen: korrektes Geradestehen, Wendungen, das Marschieren mit oder ohne Gewehr, der Ablauf der Handgriffe die bei einer Schlacht bis um Abfeuern einer Kanone auszuführen waren. Die Soldaten lernten darüber hinaus Entfernungen einzuschätzen und die Kanone auf ein Ziel auszurichten. Beim Chargieren übten sie, möglichst viele Schüsse, vier bis fünf pro Minute, abzugeben. Damit ist die Handschrift ein schönes Beispiel für die neuzeitliche Wertschätzung des Exerzierens, die ja ursprünglich militärtaktischen Überlegungen geschuldet war. Die Disziplin sollte den sittlichen Zerfall des Söldnertums überwinden und die Normierung der Kommandos erlaubte den massenhaften Einsatz von Schußwaffen, die sich dadurch als überlegen erweisen. Diese Kommandos wurden auf die einzelnen Handgriffe abgestimmt, dadurch konnten die Offiziere den Takt angeben, Folge war die Synchronisierung der Soldaten zum Truppenkörper. Das militärische Exerzieren war aber bereits zu einer Sonderform rhythmischer Bewegungskunst geworden, die als erlernbare Praxis für den Gebrauch des Körpers im allgemeinen galt. ""Nicht allein der Drill, die gesamte europäische Bewegungskultur dieser Zeit war eine Kultur der Exerzitien. Diese Auffassung von Bewegung als Form der geordneten, koordinierten und maßvollen Beherrschung des eigenen Körpers entsprach den Idealen des Hofes."" (Wellmann, S. 28). Die Artillerie in der preussischen Armee : Nach ihrer Einführung in Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts nahm die Bedeutung der Artillerie in der Armee sehr schnell zu und war bereits im Siebenjährigen Krieg entscheidend, auch wenn das Mitführen der schwergewichtigen Kanonen, Haubitzen und Mörser den Handlungsradius der Armee in der Schlacht verlangsamte und die Bewegungsmöglichkeiten einschränkte. Jedes Bataillon der ersten Schlachtlinie führte zwei 6pfünder Kanonen sowie eine Haubitze mit sich. In der zweiten Linie kamen zumeist 3pfünder Kanonen zum Einsatz. Die Kanonen beförderte man auf einachsigen Karren, den in der Handschrift erwähnten Protzen, die zum Transport des Geschützes mit einer Lafette verbunden und dann mit Pferdegespannen bewegt wurden (siehe die Fotos und Zeichnungen von Kanonen, Haubitzen, Gerätschaften und Uniformen der preußischen Artillerie in Guddat 1992). Damit ein Geschütz gefechtsbereit war, musste es ""abgeprotzt"" werden. Die Munition für die Kanonen wurde in einem sogenannten ""Protzkasten"" befördert. Den Kanonieren assistierten Handlanger und Zimmerleute, die in der Handschrift erwähnt werden. Weitere in der Artillerie zum Einsatz kommende Waffen waren Haubitzen, die von Bombardieren und ihren Hilfskräften betätigt wurden und mit denen man schießen und werfen konnte, sowie Mörser. Über diese Waffen hatten so genannte Feuerwerker das Kommando. In Friedenszeiten gab es eine ""Exerzierbatterie"". 1740 existierten in der preußischen Feldartillerie Kanonen in den vier Kalibern von 3, 6, 12 und 24 Pfund, 18pfünder Haubitzen sowie 50 bis 75pfünder Mörser. Beim Tod Friedrichs II. im Jahr 1786 umfasste die Artillerie 11.000 Männer, die über 6.000 Geschütze und 84.000 Zentner Pulver verfügten. Bei der Auflösung der preußischen Armee 1806 bestand die Artillerie aus vier Feldregimentern und 14 Festungskompanien. In der preußischen Armee wurde zwischen der Feld- und der Garninisonsartillerie unterschieden. Der Garnisonsort des Feldbataillons war Berlin. Der Übungsplatz, zugleich Paradeplatz der Artillerie, lag neben dem Zeughaus. Im Sommer bekamen die Artilleristen dort praktischen Unterricht an den Geschützen, im Winter wurde ihnen in Kolloquien das theoretische Fachwissen sowie eine Ausbildung in Lesen, Schreiben und Mathematik vermittelt. Als Abschlussarbeiten mußten die Soldaten Musterzeichnungen anfertigen und eine mündliche Prüfung ablegen. In Aufbaukursen wurden Kenntnisse in Geometrie und Trigonometrie vermittelt. Die Offiziere hörten Vorlesungen zur Physik, Architektur und Geometrie. Schriftliche Lehranweisungen gab es nicht. Die Soldaten lernten den praktisch orientierten Stoff durch Fragen der Ausbilder, die sie beantworten mußten. 1772 erhielten die Kanoniere von ihren Offizieren im Zeughaus eine Vorlesung über die Grundsätze der preußischen Artillerie. Die als Manuskript erhaltene Nachschrift des Kollegs vermittelt neben dem einschlägigen Fachwissen auch Verhaltensregeln (abgedruckt in Bleckwenn 1982, S. 1-27). Möglicherweise ist auch die vorliegende Handschrift die Nachschrift einer solchen Lehrveranstaltung. Transkription des Textanfangs: Titel des ersten Abschnitts: Stück Exercitium Mit den 3 Pfündter Canons. Die zu den 3pfündigen Canons gehörige Mannschaft bestehet aus 5 Artilleristen und 6 Handlangern, und zwar werden die Nr.: 1.5.6.8 und ii (gemeint 2.) durch Artilleristen die Nr. 2.3.4.7.9 und 10 durch Handlangers besetzt. Auch kommt zu jeden 2 Canons ein Corporal. Die Mannschaft so zum Geschütz Comandiert wird, wird in 2 Gliedr, mit 2 Schritt Oefnunng (?) im Gesicht ihres neben Mannes aufgestellt. Dann auf 3 Tempo nach dem Comando fort Achtung: Hierauf tritt der rechte Flügl-Mann rechts vor, und macht zu gleicher Zeit die Wendung links um Ergreifts Seitengwöhr. Da wird so lange ausgehalten, dass man 3 langsam zehlen kann. Wasserzeichen und Datierung : Das Wasserzeichen trägt den Schriftzug C & A HONIG mit einem gekrönten Medaillon. Dabei handelt es sich um Papier aus der Papiermühle der aus den Niederlanden stammenden Familie Honig, die das Motiv eines Bienenkorbs als Emblem benutzte und vielleicht eine Niederlassung in Potsdam (Holländisches Viertel) unterhielt. Ein Wasserzeichen der Papiermühle Honig fand sich auch in einem forstwirtschaftlichen Manuskript aus Preußen, dessen älteste Teile 1772 geschrieben wurden. Deshalb kann angenommen werden, dass die vorliegende Handschrift in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zu datieren ist. Dafür spricht auch der Vergleich mit dem Inhalt der von Bleckwenn 1982 publizierten Manuskripte zur Ausbildung und Taktik der Artillerie. Diese Handschriften befinden sich heute in der Landesbibliothek Darmstadt. Literatur : Zur Ausbildung und Taktik der Artillerie. Mit einer Einführung, hg. v. Hans Bleckwenn. Osnabrück 1982. Martin Guddat: Kanoniere, Bombardiere, Pontoniere. Die Artillerie Friedrichs des Großen. Herford, Bonn 1992 (zur Ausbildung der Artilleristen siehe S. 72f.). Olaf Groehler: Das Heerwesen in Brandenburg und Preußen von 1640 bis 1806. Berlin 1993. Janina Wellmann, Hand und Leib, Arbeiten und Üben. Instruktionsgraphiken der Bewegung im 17. und 18. Jahrhundert, In: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der frühen Neuzeit, hrsg. von Rebekka von Mallinckrodt, Wiesbaden, Harrassowitz Verlag, 2008."
Preis: 2500 EUR